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Buchrezension: „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ von Dmitrij Kapitelman

Lesend

Vater und Sohn reisen nach Israel ins Land ihrer Wurzeln:
lehrreich, widersprüchlich, heilsam und humorvoll

Inhaltsangabe

In seinem bereits 2016 erschienen autobiografischen Roman beschreibt Dmitrij Kapitelman die gemeinsame Reise mit seinem jüdischen Vater nach Israel. Es ist sein Vorschlag, um seinen Vater Leonid besser kennenzulernen. Denn der scheint ihm seit der Migration der Familie aus der Ukraine nach Deutschland irgendwie unsichtbar zu sein.

Nach langem Hin und Her willigt Leonid ein, und die beiden fliegen nach Tel Aviv. Vater und Sohn nähern sich ihren Wurzeln auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Je tiefer sie in das Land und ihre Menschen eintauchen, umso mehr stellt Sohn Dmitrij fest, dass es hier nicht nur um den Vater geht. Vielmehr lernt er viel über sich selbst, sein Verhältnis zu Israel, zum Judentum – und zu Deutschland.

Mehrwert

Skeptisch habe ich mich der Empfehlung einer Freundin genähert, weil mich das Thema Israel zuvor nie in seinen Bann gezogen hatte. Doch nach der Lektüre der ersten Seiten überzeugte mich allein der Schreibstil des Autors zu 100 Prozent. Er besticht durch gnadenlose Selbstironie und einen gewaltigen Wortwitz. Es gelingt Dmitrij Kapitelman sofort, die Leserin emotional in das Leben hineinzuziehen, das die Einwandererfamilie in Deutschland führt – und in die skurrilen Eigenheiten der Protagonisten. Er besticht mit einer faszinierenden Beobachtungsgabe und einer großen Portion Humor. Allein deshalb lohnt sich die Lektüre des Buches.

Doch es geht inhaltlich natürlich um viel mehr. Zunächst einmal begleitet die Leserin die ersten Schritte der Reisenden auf israelischem Boden und nähert sich diesem fremden, faszinierenden sowie widersprüchlichen Land in seinen ganz unterschiedlichen Facetten: Religion, Geschichte, Alltag, Verhältnis zu Deutschland und anderen Herkunftsländern, Israel-Palästina-Konflikt. Was als Reise mit klarem Fokus auf der Vater-Sohn-Beziehung beginnt, verschiebt sich im Verlauf des Buches zum Erforschen der eigenen Identität des Sohnes, die gar nicht mehr so klar erscheint wie zunächst angenommen.

Die Reise verändert nicht nur den Vater, sondern auch den Sohn sowie dessen Sichtweise auf sein weiteres Leben in Deutschland.

Fazit

Dieser autobiografische Roman ist ein echtes Highlight und ein großartiger Einstieg, wenn man sich das erste Mal mit Israel beschäftigen möchte. Beide Protagonisten unternehmen diese Reise in das Land, in dem sie nie gelebt haben. Sie sind in der Ukraine bzw. in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert worden. Als Leser begreifen wir, dass das Jüdischsein jedoch ganz automatisch eine besondere Verbindung zum Staat Israel begründet, die nicht auflösbar zu sein scheint. Und das auch ganz unabhängig von der Frage, wie intensiv die Religion des Judentums im Alltag gelebt wird. Dmitrij lernt seinen Vater auf dieser Reise (wie erhofft) noch einmal anders kennen – und sich selbst. Für mich sind insbesondere diese Beschäftigung mit der eigenen Identität und das emotional erzählte Ende eine sehr spannende Wendung im Verlauf des Werkes.

Doch über dieser inhaltlichen Bereicherung steht aus meiner Sicht der ganz und gar unterhaltsame und pointierte Schreibstil des Autors, der dem in Deutschland oft als schwer und ernst präsentierten Thema Leichtigkeit gibt. Humor, Sarkasmus und der ironische Blick auf sich selbst sind seine Mittel der Wahl, um seine liebenswerte Familie zu beschreiben und gleichzeitig auf viel Widersprüchliches in der israelischen und deutschen Gesellschaft aufmerksam zu machen.

Wie passend, dass das neue Buch „Eine Formalie in Kiew“ des Journalisten, Autors und Musikers Dmitrij Kapitelman gerade jetzt im Jahr 2021 erscheint! Auf meiner Bücherliste steht es schon.

Angaben zum Buch

Dmitrij Kapitelman: Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters, dtv Verlag 2016, 3. Auflage 2018, 288 Seiten.

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Buchrezension_Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters

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