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Buchrezension: „Die Neapolitanische Saga“ von Elena Ferrante

Lesend

Eine außergewöhnliche Frauenfreundschaft im Italien des 20. Jahrhunderts

Inhaltsangabe

Elena und Lila sind seit der Kindheit beste Freundinnen und wachsen in einem armutsgeprägten Viertel im Neapel der 1950er Jahre auf. Ihre sowohl wohltuende als auch zerstörerische Freundschaft dauert bis ins hohe Alter, obwohl die beiden Lebenswege der Mädchen und später Frauen nicht unterschiedlicher hätten verlaufen können.

Die Autorin, die unter dem Pseudonym Elena Ferrante schreibt, präsentiert diese Entwicklung und die intensiven Berührungspunkte der beiden in den folgenden vier Bänden:

  • Band 1: Meine geniale Freundin
  • Band 2: Die Geschichte eines neuen Namens
  • Band 3: Die Geschichte der getrennten Wege
  • Band 4: Die Geschichte des verlorenen Kindes

Lila kommt daher als schillernde Persönlichkeit, die sowohl Männer als auch Frauen gleichermaßen fasziniert wie abstößt. Die bodenständige und zunächst etwas farblos wirkende Elena dagegen nutzt das Potenzial an Klugheit und Wissbegierde, das beide Mädchen mitbringen, und erarbeitet sich den Weg ins Bildungsbürgertum und in den Wohlstand.

Um die 50 Jahre sind ihre Lebensläufe schicksalhaft miteinander verbunden, nicht zuletzt durch gemeinsame Kindheitserinnerungen, die Liebe zu demselben Mann – und ihre gemeinsame Herkunft. Bis Lila verschwindet und Elena beschließt, ihre gemeinsame Geschichte aufzuschreiben.

Mehrwert für den Leser

Diese ganz wunderbare 2100 Seiten lange Erzählung besticht gleich in mehrfacher Hinsicht: Zunächst erfolgt die Einführung in die Lebenswelt des ärmlichen neapolitanischen Viertels, in dem Elena und Lila aufwachsen und dessen Sozialstruktur dem Leser Stück für Stück nahegebracht wird. Über die Jahre wird der politische und wirtschaftliche Wandel Italiens deutlich, doch manches hält sich sehr lang, beispielsweise die mafiösen Strukturen, die neapolitanische Familien über Generationen prägen und Weiterentwicklung verhindern.

Ferrante präsentiert Bildung als den einzigen Weg, der hinausführt aus der Armut und den familiären und wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Elena nimmt seit der Schulzeit nahezu übermenschliche Anstrengungen auf sich, um studieren zu können und später als erfolgreiche Autorin Zugang zu einer anderen Gesellschaftsschicht zu bekommen.

Lila hingegen heiratet früh, erarbeitet sich über zahlreiche schmerzhafte Umwege eine Machtposition im heimatlichen Stadtteil Neapels und bietet den lokalen Mafiosi auf diese Weise Paroli.

Doch die Saga ist keine reine Sozialstudie. Alle Personen, die für die beiden Mädchen schon zu Schulzeiten wichtig sind, entwickeln sich als Nebenfiguren über die 50 Jahre en passant mit. Verbunden bleiben sie über die liebevolle und gleichzeitig toxische Freundschaft der beiden Protagonistinnen, da auch Elena sich nie ganz von ihrer Heimatstadt Neapel lösen kann.

Da die Saga als Ich-Erzählung Elenas Perspektive einnimmt, bleibt der Blick auf Lila stets gefärbt. Als Leserin kann ich sehr gut nachvollziehen, warum Elena es trotz vieler Verletzungen und heftiger Schicksalsschläge nicht schafft, sich von dieser so außergewöhnlichen Frau und Freundschaft zu lösen – auch wenn mich hin und wieder die nackte Wut gepackt hat.

Sprachlich wird mit einer Leichtigkeit erzählt, die schwer zu beschreiben ist, aber bei mir dazu geführt hat, die Werke auf gar keinen Fall aus der Hand legen zu können. Die Übersetzerin Karin Krieger wird einen großen Anteil daran haben.

Fazit

Die vier Bände sind auf eine schwer zu definierende Weise ein literarisches Meisterwerk. Der Blick ins Neapel der 50er Jahre sowie in die wirtschaftliche und politische Entwicklung Italiens, die Hommage an Bildung als Ausweg aus Armut und Rückständigkeit, zwei fesselnde Charaktere als Protagonistinnen, ein beeindruckender Handlungsstrang über das gesamte Werk, präsentiert in leichter und flüssiger Sprache – so kann die Faszination vielleicht erklärt werden.

Bis zum in gewisser Weise offenen Schluss habe ich mich gefragt, inwiefern die Saga vielleicht gleichzeitig die Autobiografie der Autorin ist. Doch da Elena Ferrante um jeden Preis anonym bleiben möchte, bleibt dieser Gedanke unbestätigt.

Wer Gesellschaftsstudien und Familiengeschichten in all ihren Facetten mag, muss diese Saga lesen. Und zwar, wenn möglich, alle vier Bände am Stück. Die 2020 erschienene Geschenkausgabe eignet sich deshalb besonders.

Angaben zum Buch

Elena Ferrante: Die Neapolitanische Saga, Suhrkamp 2020, 4 Bände, ca. 2100 Seiten.
(Der erste Band erschien in der ersten Originalauflage bereits 2011.)

Übersetzt von Karin Krieger.

Wer sich für die Autorin und ihr Schaffen interessiert, dem empfehle ich diesen Eintrag in Wikipedia:

https://de.wikipedia.org/wiki/Elena_Ferrante

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Buchrezension_Die Neapolitanische Saga